Der Historiker für Sozialgeschichte Hartmut Kaelble (1) veröffentlichte 2019 das Buch „Der verkannte Bürger – Eine andere Geschichte der Europäischen Integration seit 1950.“ (2) Kaelbles These war, dass die Bürger sich hinsichtlich ihrer Erwartungen an die EU nicht allein von der Europapolitik leiten ließen. Zur europäischen Politik hatten sie auch ihre eigenen Vorstellungen. Und diese waren nicht deckungsgleich mit der tatsächlich verwirklichten. Dabei waren ihre Erwartungen „sicher nicht völlig losgelöst von der Europapolitik. … Aber sie richteten sich nach eigenen Maßstäben und Prioritäten.“ (S.81) So wünschten sich die Europäer oftmals, dass die EU auf Feldern tätig würde, auf denen sie gar keine Kompetenzen hatte.
Eine Differenz zur tatsächlich verwirklichten Europapolitik sieht Kaelble vor allem auf drei Sachgebieten. Erstens verbanden die Bürger „mit der europäischen Integration immer politische Ziele, in denen sie sich von der Europapolitik oft erheblich unterschieden.“ (S.110) Bei allen Schwankungen und bei allem Streit hatte für sie eine gemeinsame Außenpolitik der europäischen Gemeinschaft schon in den 1970er Jahren eine hohe Priorität. Hinzu kam der Wunsch nach einer eigenen europäischen Verteidigung, der in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewann.
Ebenfalls ein wichtiges Thema im Zusammenhang mit der europäischen Integration war zweitens, so Kaelble, die Wirtschaft. Hier ging es eher um die Auseinandersetzung mit der europäischen Politik. (S.111) Drittens wünschten sich die Bürgerinnen und Bürger stets mehr Einfluss in der europäischen Politik. (S.112) Die Rangfolge von Handlungsfeldern, wie sie die Bürger aktuell erwarten, zeigt das Eurobarometer 102 (3) vom Herbst 2024. Die ersten drei Handlungsfelder, auf denen die EU aktiv werden sollte, sind danach: Verteidigung und Sicherheit, Migration und Wirtschaft (Wettbewerbsfähigkeit, öffentliche Schulden).
Der Überfall Russlands auf die Ukraine vor fast drei Jahren hat vieles verändert. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik rückte in den Fokus. Und erzwang die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene, die sich viele Europäer seit Jahrzehnten vergeblich gewünscht hatten. So heißt es auf der Seite des Europäischen Rates: „Die EU muss im Verteidigungsbereich strategisch handeln und ihre Fähigkeit zum autonomen Handeln steigern, um die Bevölkerung besser zu schützen und ihre Werte besser zu verteidigen.“ (4) Mit der Wahl eines erratisch handelnden Präsidenten in den USA ist weiterer Druck auf Europäer und NATO hinzugekommen.
Es ist deshalb wenig verwunderlich, wenn in diesen Krisenzeiten die Zustimmung der Bürger zur EU steigt. „Nur gemeinsam sind wir stark“ - das dürfte den meisten Europäern klar sein. Und für die EU bietet die gegenwärtige Herausforderung (so schlimm es ist) eine Chance, ihre Politik auf einem weiteren Feld mit jahrzehntelang gehegten Erwartungen vieler Bürger in Deckung zu bringen. Auch das zeigt das Eurobarometer: „51 Prozent der Europäerinnen und Europäer sprechen der EU ihr Vertrauen aus, das ist das beste Ergebnis seit 2007.“ (5) Wer meint, das sei wenig, sollte einen Blick auf die Zustimmungswerte mancher nationaler Regierung der Mitgliedsländer werfen.
Margit Reiser-Schober
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- https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/emeriti-ehemalige-professor_innen/kaelble
- https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/der_verkannte_buerger-15358.html?srsltid=AfmBOoqxJOslZOFK8SqL5pfoEnep0M06U06P9sY83tzkJiHMrnpNb6xJ
- https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/3215
- https://www.consilium.europa.eu/de/policies/defence-security/
- https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_24_6126