Von bfunke |
Jugendliche besuchen das Europäische Parlament in Brüssel

 

Die deutsche Sprache ist berühmt (und berüchtigt) für Ihre Komposita, die zusammengesetzten Hauptwörter. Vor einigen Jahren waren, unabhängig voneinander, gleich zwei deutsche Komposita in der europäischen Diskussion. Das erste Wort war „Spitzenkandidat“. Es tauchte anlässlich der Europawahl 2014 erstmals auf. Fast alle europäischen Parteienfamilien traten damals mit Spitzenkandidaten auf ihren Listen an. Damit verbunden war der Wunsch nach einem weiteren Schritt zur Demokratisierung der EU. Denn aus der Wahl des Parlamentes sollte künftig auch die Spitze der Kommission hervorgehen. 

Mit dem Luxemburger Jean Claude Junker, der als Spitzenkandidat 2014 für die Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei antrat, konnte dies verwirklicht werden. Doch schon bei der Europawahl 2019 war dieses Prinzip wieder außer Kraft. Denn das Europäische Parlament wählte schließlich Ursula von der Leyen, die gar nicht kandidiert hatte, am 16. Juli 2019 mit knapper Mehrheit zur Präsidentin der Kommission. Juncker meinte Tage zuvor: "Ich bin ein sehr einzigartiger Typ. Ich war der erste und der letzte Spitzenkandidat." (1) Doch dass Juncker der letzte europäische Spitzenkandidat gewesen sein soll, das will das Europäische Parlament verhindern. (2) 

Am 2. Mai 2022 hat es deshalb eine Reform der Europawahl beschlossen. Und diese Reform soll auch das Prinzip des Spitzenkandidaten stärken. Denn zu ihrer bisherigen Stimme für die nationalen Kandidaten in den Wahlkreisen ihrer Mitgliedsstaaten sollen die Bürgerinnen und Bürger eine zweite Stimme erhalten. Mit dieser können sie in einem EU-weiten Wahlkreis transnationale, unionsweite Listen von politischen Bündnissen oder Parteien wählen. Wähler aus der Bundesrepublik könnten so beispielsweise ihre zweite Stimme für Kandidatinnen aus Frankreich, Dänemark oder Polen geben.

Um die Menschen in der gesamten EU in gleicher Weise zu repräsentieren, würden die Mitgliedsländer je nach Bevölkerungszahl in drei Gruppen eingeteilt. Und diese drei Gruppen sollen auf den Listen des EU-weiten Wahlkreises proportional vertreten sein. Auf diese Weise sollen weitere 28 Mandate zusätzlich zu den bisherigen 705 Parlamentssitzen vergeben werden. Und aus den Kandidaten dieser Listen würden dann die EU-Kommissare hervorgehen. Kommissionspräsident würde am Ende der Spitzenkandidat einer Liste, die europaweit die meisten Stimmen erhalten hat. (3)

Weitere Reform-Vorschläge sind: In allen Mitgliedstaaten soll Briefwahl ermöglicht werden, eine gemeinsame Sperrklausel gelten und 18-Jährige kandidieren können. Um für Ausgewogenheit hinsichtlich der Geschlechter zu sorgen, sollen die Listen nach dem Reißverschluss-Verfahren beziehungsweise nach Quoten aufgestellt werden. Schließlich soll der 9. Mai als EU-weit einheitlicher Wahltag eingeführt werden. Mit diesen Reformen würde eine ganze Reihe von Bürger-Vorschlägen aus der Konferenz zur Zukunft Europas aufgenommen, die von April 2021 bis Mai 2022 durchgeführt wurde. (4)

Leider sieht es aktuell nicht so aus, dass diese Reformen in den kommenden EU-Wahlen 2024 schon wirksam werden. (5) Der EU-Ministerrat hatte sich auf seiner Sitzung am 27. Juni zwar damit befasst. Doch Einigkeit konnte lediglich für die Bemühung erzielt werden, „die europäische Dimension der Wahlen zum Europäischen Parlament zu stärken“. (6) Was die weiteren Vorschläge betrifft, so wurden „die nationalen Besonderheiten bei der Organisation von Wahlen“ ins Feld geführt. Doch die „größten Schwierigkeiten“ bereitete den Ministern der zusätzliche EU-weite Wahlkreis sowie das Spitzenkandidaten-Verfahren.

Das muss verwundern. Denn um die Krisen der vergangenen Jahre zu überwinden, haben die Mitgliedsländer ihre Gemeinsamkeiten vertieft. So hatte sich der Europäische Rat im Juli 2020 auf das „Next Generation EU COVID‑19-Aufbaupaket“ geeinigt. (6) Ziel des 750 Milliarden umfassenden Pakets ist es, die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu überwinden und Investitionen in den ökologischen und digitalen Wandel zu fördern. (7) Die Kommission wurde ermächtigt, im Namen der Union diese Summe an den Kapitalmärkten aufzunehmen. Ein weiterer Ausdruck der europäischen „Schicksalsgemeinschaft“ – die zu ihrer demokratischen Legitimation „Spitzenkandidaten“ braucht …!

  1. https://www.spiegel.de/politik/ausland/jean-claude-juncker-kritisiert-auswahlverfahren-fuer-eu-spitzenposten-a-1275954.html
     
  2. https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220429IPR28242/parlament-neue-regeln-fur-europawahl-eu-weiter-wahlkreis-gefordert
     
  3. https://www.deutschlandfunk.de/-eu-parlament-reform-europawahl-100.html#Wahllisten
     
  4. https://www.consilium.europa.eu/de/policies/conference-on-the-future-of-europe/#Report
     
  5. https://www.eu-info.de/dpa-europaticker/321855.html
     
  6. https://www.consilium.europa.eu/de/meetings/european-council/2020/07/17-21/
     
  7. https://www.consilium.europa.eu/de/infographics/ngeu-covid-19-recovery-package/