Es erstaunt immer wieder, zu welchen wissenschaftlichen und technischen Leistungen der alte Kontinent imstande ist. Hier wurde das World Wide Web erfunden (1) und dem Unternehmen BioNTech gelang die schnellste Entwicklung eines innovativen Impfstoffs gegen die Corona-Pandemie. Doch leider ist man auf dem alten Kontinent bisher nicht in der Lage, die Früchte dieser Anstrengungen zu ernten. Denn BioNTech wählte, wie viele andere Unternehmen, für seinen Börsengang nicht Europa, sondern die USA.
Die Ursache sei nicht der Mangel an Loyalität gegenüber Europa oder fehlendes Vertrauen in seine Arbeitskräfte. So legen es europäische Startup-Verbände und europäische Börsen jetzt im September in einem Brandbrief dar, adressiert an die EU-Finanzminister und die Europäische Kommission. (2) „Die Logik ist rein wirtschaftlich: Die USA bieten tiefere und breitere Kapitalpools, potenziell höhere Bewertungen und ein besser integriertes Börsennotierungs- und Handelsökosystem, das es in Europa nicht gibt.“
Eine Reihe vielversprechender Start-ups, die expandieren wollten (Scale-ups), zögen gegenwärtig einen Börsengang in Betracht. Die Herausforderung bestünde nun darin, diesen Unternehmen den Zugang zu ausreichenden Investitionen in der EU ermöglichen, „damit die von ihnen geschaffenen Arbeitsplätze, Patente, Talente, Steuerzahlungen und die wirtschaftliche Rendite erhalten bleiben.“ Die Autoren listen in ihrem offenen Brief vier Maßnahmenbündel auf, die nach allgemeiner Auffassung Abhilfe schaffen können.
So sollten – erstens – Scale-ups noch vor dem Börsengang durch die Förderung von Risikokapital in ihrer Wachstumsphase gestärkt werden. Denn da es bisher an europäischen Risikokapitalgebern mangelt, verlässt jedes vierte Start-up, das in Europa mehr als 100 Millionen Euro aufbringt, am Ende diesen Kontinent. Zweitens: Ein verändertes steuerliches und regulatorisches Umfeld sowie ein vertiefter Liquiditätspool sollten Anreize schaffen, damit europäische Ersparnisse künftig in die eigene Wirtschaft fließen. Bisher investieren europäische Sparer jährlich 300 Milliarden Euro in amerikanische Unternehmen.
Drittens sollten Transaktionskosten für Eigenkapitalinvestitionen beim Überschreiten von EU-Grenzen beseitigt werden. Denn: „Heute müssen die meisten europäischen Anleger beim Kauf einer europäischen Aktie mehr zahlen als beim Kauf einer nationalen oder gar einer amerikanischen Aktie.“ Viertens sollten die europäischen Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich ihrer Geldanlagen kompetenter werden. Dabei könne die EU von erfolgreichen Initiativen und Verfahren auf nationaler Ebene lernen „um eine gesamteuropäische Anstrengung für eine stärker integrierte Kapitalmarktunion zu schaffen.“
Der Brandbrief im September ist kein Zufall. Denn Mario Draghi legte am 9. September seinen Bericht „Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit – Eine Wettbewerbsstrategie für Europa“ vor (3). Und in diesem Herbst wird eine neue Kommission ihre Arbeit aufnehmen. Deren Präsidentin von der Leyen hat in ihrer Bewerbungsrede (4) dem Parlament am 18. Juli 2024 versprochen, eine Europäische Spar- und Investitionsunion vorzuschlagen (eine andere Bezeichnung für Kapitalmarktunion.) „Europäische Start-ups sollten nicht in die USA oder nach Asien schauen müssen, um ihre Expansion zu finanzieren. Sie müssen das, was sie für ihr Wachstum brauchen, hier in Europa finden.“
In diesem Fall könnte sich dann auch Enrico Letta wieder freuen. Als er seinen Bericht „Viel mehr als ein Markt“ (5) am 7. Mai dieses Jahres bei einer Veranstaltung in Frankfurt am Main vorstellte (6), wurde er während der anschließenden Diskussion einen Moment persönlich. Um seinen Bericht zu verfassen, sei er auch mit jungen Leuten der Start-up-Szene ins Gespräch gekommen. Dabei habe es ihn sehr traurig gemacht, dass diese ihm bekannten: „Mein Traum ist es, in die USA zu gehen …“, denn dort fänden sie die besseren Bedingungen für ihr Unternehmen.
Margit Reiser-Schober
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- https://de.wikipedia.org/wiki/World_Wide_Web
- https://europeanstartupnetwork.eu/index.php/news/
- https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en#paragraph_47059
- https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_24_3871
- https://www.consilium.europa.eu/media/ny3j24sm/much-more-than-a-market-report-by-enrico-letta.pdf
- https://safe-frankfurt.de/de/aktuelles/alle-news/einzelansicht/der-letta-bericht-weniger-integration-kann-sich-europa-nicht-leisten.html